Sonntag, 2. November 2014

Exzerpt zu "Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition" (Luhmann 1993a)

Hauptthese
Seine Hauptthese ist, dass Semantik und Sozialstruktur korrelieren (siehe Fußnote (kurz Fn.) 1). 

Im Text plausibilisiert er diese These mit der funktionale Differenzierung im Vergleich zu stratifikatorischer Differenzierung (Ständeordnung).

Buchklappeninnentext und Vorwort, Definitionen
Unter Semantik versteht Luhmann "kulturgeschichtliche[s] Material" (1993b: 7). Unter einer "'gepflegten' Semantik" versteht Luhmann "die bewahrenswerte[n] Gesichtspunkte der sozialen Kommunikation [...], [die] aus[ge]arbeitet, konserviert und variiert" wird (1993a: Buchklappeninnentext).
Weitergehende Definition von Semantik siehe S. 19.
Definition Latenz (S. 65)

Kapitel I: Kritik an Historikern
Luhmann kritisiert die Historiker wegen fehlendes Theoriebezuges (15) (Fn. 2). Zudem ist Wissen standortabhängig (12)

Kapitel II: Ausdifferenzierung als typifizierter Sinn der Semantik
Semantik bildet Formen typifizierten Sinns (19) - mit situativen Vorkehrungen wie Rollen (20). Das ist somit Ausdifferenzierung - bestehend aus dem Zusammenhang von Systemdifferenzierung und Komplexität (20).

Kapitel III: Zum Zusammenhang von Komplexität und Systemdifferenzierung.
Komplexität ist die intervenierende Variable zwischen Strukturänderungen und Semantik, die sich als emergenter Sinn anpasst (22 ff.), (Fn. 3). Die Semantik der Orientierungserfordernisse zwingt zur Selektion (24); ähnlich wie Normen (L.E.). Dadurch ist Systemdifferenzierung mit Teilsystemen und gesellschaftsinternen Umwelten erforderlich (25). Dies lässt sich wie folgt grafisch darstellen (34)
     Element/Relation  > Komplexität
                                                                    > Semantik
     System/Umwelt    > Differenzierung

Die Differenzierung wird gegenüber der Komplexität ausführlicher dargestellt: Teilsysteme sind beispielsweise Funktionssysteme mit je spezifischer Funktion (für die Gesellschaft), Leistung (für andere Funktionssysteme) und Reflexion (für sich selbst) (29 ff.). Um die funktionale Differenzierung gegenüber der Ständeordnung zu erläutern wird beispielsweise das Prinzip der Inklusion und Gleichheit als Wertpostulate dargestellt (33 f.). Gleichheit wird an Individualität festgemacht. 

Kapitel IV: Sinndimensionen
Es geht um Sinndimensionen (sachlich, zeitlich, sozial) und die darin vorkommende Variationen und Selektionen der Evolution:
  1. Sachlich bedeutet eine Spezialisierung, eine "Steigerung des Auflöse- und Rekombinationsvermögens" (37, kursiv i. Ori.). 
  2. In der Zeitdimension findet Beschleunigung statt (38).
  3. In der Sozialdimension geht es um doppelte Kontingenz und ihre Kontrolle (38).

D.h. die evoluierende, variierende Komplexität schafft sich Korrelate in den drei Sinndimensionen. Der Selektiondruck und die sich dadurch ergebenen Formen in den Sinndimensionen sind jeweils voneinander unabhängig.

Luhmanns These ist, dass die Semantik der Differenzierung folgt (39).

Die Limitationalität von Semantiken (begrenzte Denkmöglichkeiten) werden auf Basis von Selbstreferenz in den Funktionssystemen ermittelt (40).

Kapitel V: Evolution und Differenzierung
Die Evolution (Strukturänderung) erklärt Unvorhergesehenes. Die Sinnhaftigkeit des Erleben und Handelns sind die Mutationen der sozio-kulturellen Evolution (42).

Zu klärende Fragen wären
  1. wie die gesellschaftliche Evolution die interne Evolution der Teilsysteme ermöglicht (42); 
  2. oder ob Ideenevolution eigenständig ist (45)?
Evolutionstheorie kann mit folgenden fünf Thesen hin zur Realität verdichtet (reduziert) werden 43 f.f.):
  1. Stabilisierung durch Differenzierung. 
  2. Einfluss durch die primäre Differenzierungsform. 
  3. Interne Evolution hat eine geringere Tragweite. 
  4. Ideenevolution (Semantik) ist zu unterscheiden von der Evolution der Teilsysteme.
  5. Die interne Evolution (der Teilsysteme) ist abhängig von der primären Differenzierung. D.h. auch eine Ideenevolution ist an die Semantik der primären (hier funktionalen) Differenzierung gebunden.
Kapitel VI: Bedingungen der Möglichkeiten von Ideenevolution.
Wie wird also Ideenevolution beeinflusst? Und wie lässt sich das untersuchen? Zu letzterem schlägt Luhmann folgendes vor:

  1. Selektion kann durch die Begriffe Plausibilität (leuchtet ein) und Evidenz (schließt Alternativen aus) untersucht werden (49). Beide Begriffe unterliegen auch der Variation. TEilsysteme unterliegen gesellschaftlicher und eigener Plausibilität/Evidenz (siehe oben These fünf).
  2. Stabilisierung kann durch Systematisierung und Dogmatisierung untersucht werden (50), beispielsweise Institutionalisierung. Hierbei hat die Ideenevolution eine gewisse Autonomie als Reflexionsform (Selbststabilität) (51). Die Krise des Dogmatismus (in der stratifikatorischen Differenzierung) kann als Stabilisierungsfunktion der funktionalen Differenzierung gesehen werden (51).
  3. Bei Variation sind es kognitive Inkonsistenzen und Probleme als Teil der Verschriftlichung (47). D.h. Variation braucht den Problembezug und Vermittlungsoperationen wie Änderung von Begriffsbedeutungen.
Der dabei zu untersuchende "empirische[...] corpus" (45) der Ideenevolution besteht aus besonderen Sinnzusammenhängen von gepflegter Semantik (46). Das wird thematisiert, wenn "Evolution in der Reflexion über sich selbst kommt, [...] als das, was sich ändert und damit als das, was in der Änderung Kontinuität garantiert" (46, Hervorh. i. Ori.).

Bedingung der Evolutionsfähigkeit sind eher intern (endogen).

Die Zeitdifferenz zwischen semantischen Innovationen kann groß sein.

Funktionssysteme binden Selektion.

Wenn Materialien in der Ideenevolution beispielsweisein die Wissenschaftsevolution überführt werden, lassen sich folgende Aspekte unterscheiden (52 f.):
  1. Erkenntnisfunktion 
  2. Neutralität 
    1. seitens des Subjekt sind es psychische und soziale Kontexte;
    2. seitens des Objekts ist es das Außerkraftsetzen der phänomenalen Wahrheit (Konstruktivisimus).
  3. Die interpretierte Welt ist für die Wissenschaft Umwelt, sie kann nicht die gesamte Tradition szientifizieren. Das muss als Relation interner und externer Bedingungen gelöst werden.
Fazit: Diese Reduktion der Wissenschaft ermöglicht eine Steigung des Wissens  (53), d.h. eine Komplexitätszunahme durch Komplexitätsreduktion (L.E.).

Kapitel VII: Probleme reflektierten Wissens statt gepflegter Semantik
Gepflegte Semantik wird zu (wissenschaftlichem) reflektiertem Wissen in der funktionalen Differenzierung. Die Wissenschaft löst sich ab vom Mitvollzug der Kommunikation (54). Ernst gemeinte Semantik verlagert sich in die Funktionssysteme (55), zwei Abstraktionen sind zu unterscheiden:

  1. Der Wertbegriff wird dabei eigenständig. 
  2. Relation Wissen und Gegenstand wird zum Problem (Apriorisierung versus Ideologie):
    1. Apriorisierung reduziert Komplexität auf die Identifizierung der Erkenntnisrelation (auf den Punkte, von dem aus Wissen als Wissen begründbar ist)
    2. Ideologie erweitert die Komplexität durch eine zweite Realitätsrelation.
Semantik braucht die Angabe einer Systemreferenz.

Kapitel VIII: Forschungen in der Wissenssoziologie und ihr Verhältnis zur Wahrheit
Statt Wahrheit geht es eher um das Vermögen Kontingenzen zu thematisieren (60). Es stellt sich die Frage wie die Mechanismus der Evolution zusammenhängen? Es geht beispielsweise dann um Selektion und Variation von aneinander anschließenden Ordnungen, die selektiv behandelt werden können und teils abhängig, teils unabhängig voneinander variieren (62). Hierbei sind diese Forschung über den Zusammenhang von Semantik und Sozialstruktur selbst wieder Ausgangspunkt für Evolution (62). D.h. der Gegenstand der Soziologie muss sinnhaft-selbstreferentiell begriffen werden.

Kapitel XI: Wissenssoziologie und Latenz
Da jede Selektion hinreichende Formbestimmung voraussetzt, gilt das auch für Latenz. (Deswegen ist die alte Frage ob latentes Wissen soziales Wissen werden kann obsolet (63)). "Von Latenz sollte man aber nicht im Hinblick auf das ganz Unbestimmte sprechen, denn auch latente Möglichkeiten sind bestimmte oder situativ bestimmbare Möglichkeiten, die aber trotzdem nicht aktualisiert werden können" (65). Latenz kann nicht aktiviert werden (66). Erst durch Systembildungen werden komplexe Bereiche ausgegrent wie beispielsweise Sinngrenzen, wobei drei Überlegungen beim Problem sinnerzwungener Selektion zu unterscheiden sind
    1. Es gibt weiterhin inopportune Möglichkeiten, bei denen die Gegenmöglichkeiten denkbar bleiben.
    2. bestimmte Strukturwahl bietet Sinnkombinationen verstärkt an (und schließt andere aus) - beispielsweise über Moral
    3. Latente Strukturen sind nicht einfach fehlendes Bewusstsein (67), sondern bleiben sinnhaft verfügbar. Sie regeln, was man in welchen Situationen verschweigen muss

Latenz braucht Systemschutz.

In der Soziologie wird Latenz einsehbar. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Korrelation Sozialstruktur/Semantik sich an unterschiedlichen System/Umwelt-Differenzen bricht.

Wissensoziologie steigert das Bewusstsein der Kontingenz und Nichtbeliebigkeit von Kombinationen.

Statt selbstreferentieller Theoriepraxis wäre eine evolutionstheoretischer Ansatz sinnvoll. Der Wiedereintritt der wahren Darstellung der Realität durch in den durch sie bezeichneten Sachverhalt stellt die Chance zur Wiederöffnung der Evolution dar (71).

Fußnoten
(1) Eine ähnliche These ist bei Habermas zu finden. (Eine genaue Referenz konnte in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht gefunden werden).
(2) Siehe ähnliche Kritik, jedoch breiter ausgearbeitet, in Luhmann (1981).
(3) Zur Komplexität siehe Exzerpt Komplexität.

Literatur
Luhmann, Niklas (1993a): Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In: Niklas Luhmann (Hg.): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 4 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp (1), S. 9–71.

Luhmann, Niklas (1993b): Vorwort. In: Niklas Luhmann (Hg.): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 4 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp (1), S. 7–8.

Luhmann, Niklas (1981): Geschichte als Prozeß und die Theorie sozio-kultureller Evolution. In: Niklas Luhmann (Hg.): Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen: Westdt. Verl., S. 178–197.

Fragen
i) Fragen zu Luhmanns These: dass es "[z]u einer konsolidierten Grundsemantik [...] typisch nach der Entwicklung einer Differenzierungsform" kommt (S. 39, kursiv i. Ori.): Wieso folgt die Semantik der Sozialstruktur? Wäre es nicht genauso andersrum denkbar? Beispielsweise würde erst über Ausdifferenzierung von Rollen geredet: "man müsste mal dies oder jenes tun" - also kommuniziert. Aber erst später wird dies als Handlung durchgeführt - d.h. nachdem es sich als plausibel und evident (vgl. S. 49) herausgestellt hat. Zugegebenermaßen schließt Luhmann das nicht aus, da er von "konsolidiert" und abschwächend von "typisch" spricht. Aber eine Begründung des "nach" gibt er scheinbar nicht.
Jedoch schreibt er auch, dass sie sich "wechselseitig beeinfluss" (34).

ii) Frage zum Re-Entry der Wissensoziologie (70): Wenn für Forschungen zu einem re-entry der Wissensoziologie (mit ihrer Untersuchung von Sinn und der Korrelation Sozialstruktur/Semantik) "eine Theorie selbstreferetieller Theoriepraxis wohl aus[scheidet]" und "[w]eniger anspruchsvoll ein evolutionstheoreitscher Ansatz" sei (70), dann ist mit selbstreferentieller Theoriepraxis wohl kaum die selbstreferentielle Theoriearchitektur Luhmanns gemeint? Oder müsste er sich da selbst nicht kritisieren? Was versteht Luhmann also in diesem Fall unter "Theoriepraxis"?

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