Samstag, 22. November 2014

Rezensionsansätze des Artikels "Esser [...] versus [...] Luhmann" (Greshoff 2005)

Im folgenden findet man Ansätze einer Rezension des intellektuell sehr anregenden Artikels "Soziologische Grundlagen kontrovers: erklärende Soziologie (Esser) versus soziologische Systemtheorie (Luhmann) - wie groß sind die Unterschiede?" (Greshoff 2005). Dies dient(e) nur als Vorbereitung eines persönlichen Treffens (incl. Diskussion) zwischen dem Autor des Artikel - Rainer Greshoff - und StudentInnen (incl. dem Rezensenten), welches unter Beteiligung und Moderation von Rainer Schützeichel an der Universität Bielefeld am 19-Dez-2014  innerhalb eines Theorie-Seminars WS 2014/15 (Schützeichel 2013) stattfand.

Von: Lutz Ebeling (Stand 21-Dez-2014)

1. Kontext, Vorwort
1.1 Zur Einordnung in den Wissenschaftsdiskurs
"Individualistische[...] und holistische[...] Theorieansätze[...]" (Schützeichel 2013: 2) (Fn1) der Soziologie  scheinen unvereinbar sein. Das gilt beispielsweise für Handlungs- und Systemtheorien von Esser (1999) bzw. Luhmann (1984, 1997). In diesem Wissenschaftsdiskurs geht es entweder um die "bessere" Erklärung einer Theorie oder um die Frage welche Theoriebildung die (vermeintlich zersplitterte) Soziologie "besser" integrieren kann. In diese Diskussion lässt sich Greshoffs Artikel einordnen. 

Weitere Hilfestellungen bei der Einordnung in diesen Diskurskontext geben 
  1. Greshoffs Forschungsprogramm, welches durch folgende Fragen angedeutet wird: "Theorieproduktion: Vom Vergleich zur Integration? Brauchen wir eine neue Theorienvergleichsdebatte?" (Greshoff 2010) und 
  2. der Artikel zur Frage nach der "begrifflichen[n] Bestimmung des Gegenstandes Gesellschaft" (Greshoff 2003: 71).
  3. Kritisch nimmt Schneider zu dem Artikel Greshoffs Stellung mit der Frage "Wie ist Kommunikation ohne Bewusstseinseinschüsse möglich? Eine Antwort auf Rainer Greshoffs Kritik der Luhmannschen Kommunikationstheorie" (Schneider 2008: 470). Auch Greshoff nimmt kurz kritisch (Greshoff 2005: 81, Fußnote 8) zu einem Text von Schneider (2003:59) Stellung.
  4. Beachtet man das Alter des Textes - inzwischen gut 10 Jahre - lässt sich 
  5. Zusammenfassend lässt sich die Divergenz aus Sicht des Rezensenten vielleicht in den zwei folgenden Standpunkten darstellen
    1. Die (empirischen) Prozessoren der multiplen Konstitution: "Wer tut es?" (Rainer Greshoff) und
    2. die (analytische) Bedeutung von sinnhaften Kommunikationsanschlüssen: "Wie läuft es ab?" (Rainer Schützeichel betonte diesen Punkt der Bedeutung in der Kommunikation).  
Vielleicht findet sich dann in Schneider (1994) "[e]ine mögliche Synthese von (empirischen) Prozessoren (Greshoff) und (analytischen) Bedeutung (Schützeichel) in Kommunikationsanschlüssen"? Zur Begründung siehe im extra Post hier des Blogs unter Synthese von Prozessoren und Kommunikation? (Implizit klassifizierte der Rezensent die Standpunkte mit empirisch versus analytisch – worüber man streiten könnte. Andererseits entspricht das Luhmanns Ansicht, „daß Kommunikation nicht direkt beobachtet, sondern nur erschlossen werden kann“ (Luhmann 1984: 226, Hervorh. i. Ori.). Mehr siehe unter Synthese von Prozessoren und Kommunikation?.

Das Folgende stellen nur sehr knappe Hinweise - und kein Exzerpt - zu den Kapiteln dar, da es als nur Ausgangspunkt für die sich anschließenden Fragen diente.

1.2 Zum Vorwort (Abschnitt 1-3, S. 78-80)
Ähnlich wie Luhmann "den gesamten Gegenstandsbereich der Soziologie zu erfassenversucht (1984: 33), möchte Essers Theorie die "multiparadigmatische Zersplitterung der Soziologie durch eine integrative Konzeption zu überwinden" (78). Essers Ansatz stellt jedoch die "Luhmann-Seite sehr verkürzt" dar, weil "die Relationierung der Konzepte Luhmanns und Essers nicht erkennbar von einer Position aus erfolgt" (78). Dagegen versucht Greshoff  in dem vorliegenden Artikel zu zeigen, "wie nahe sich im Grunde die kontroversen Positionen in der Konzeptualisierung dessen sind, was sie als den zentralen Gegensatz der Soziologie begreifen" (79).

Dazu wird zunächst in auf knapp sieben Seiten Essers Modell erläutert (Kapitel 1, 80-86), sodann auf 25 Seiten Luhmanns Theorie (Kapitel 2, 86-111), um dann auf den letzten sieben Seiten (Kapitel 3, 112-118) beiden Theorien im Hinblick auf die Nähe ihres Standortes zusammenfassend zu vergleichen.

In der vorliegenden Rezension wird die grundlegende Kenntnis beider Theorien vorausgesetzt. Als Einstieg sei auf Esser (1999) und Schimank (2010) bzw. Luhmann (1997: Kapitel I) verwiesen. Dies führt dazu, dass im vorliegenden Artikel die Kapitel 1 und 2 nur andeutungsweise exzerpiert werden,. Es wird sich insbesondere aus die aus Kapitel 3 ergebenden Anschlussfragen für weitere Forschungen konzentriert.

2 Zum Kapitel "1. Essers Modell der soziologischen Erklärung" (Abschnitt 4-12, S. 80-86)
Essers Theorie versucht "kollektive Phänomene, und zwar typische soziale Situationen, deren Reproduktion bzw. deren Wandel, vor allem ihrer Strukturen, zur erklär[en]"(80)(Fn2). Greshoff lässt dazu Kritiker wie Baecker, Schneider oder Nassehi zu Wort kommen (80 f.).

3 Zum Kapitel "2. Luhmanns Konzeption des Sozialen" (Abschnitt 13-45, S. 86-111)
Aufgrund der Analyse der multiple[n] Konstitution" (Luhmann 19984: 65 f.) oder der doppelten Kontingenz kommt Greshoff zum thesenhaften Schluss, dass "Produkte dieser Prozessoren (oder psychischen Systeme, L.E.) das soziale System [bilden], die Prozessoren inklusive deren Produktionstätigkeiten sind relativ dazu Umwelt" (89). 

4 Zum Kapitel "3. Esser und Luhmann im Vergleich" (Abschnitt 46-53, S. 112-119)
Nach Luhmann werden "Operation und Strukturen [...] in den sozialen Systemen hergestellt", anders als Essers Theorie es nahe legt. "[D]ann bestünden soziale Systeme als bloßes Produkt externer Produktionsinstanzen" (112). Jedoch auch "Selektionen [...] haben [...] einen intentionalen Charakter" (112).

5 Offene Fragen des Rezensenten, zugleich eine bewertende Stellungnahme.
Die folgenden Fragen dienten als Vorlage zu einem Treffen zwischen Rainer Greshoff und StudentInnen (incl. dem Rezensenten) - unter Moderation von Rainer Schützeichel an der Universität Bielefeld am 19-Dez-2014 - innerhalb eines Theorie-Seminars WS 2014/15 von Rainer Schützeichel (2013).

5.1 Sehr positive Würdigung
Grundsätzlich stellt der Artikel ein beachtenswerte Leistung dar; denn es wird einerseits der Spagat zwischen den architektonisch unterschiedlichen Theorien bewahrt, zum anderen werden mit der Kritik zugleich Vorschläge der Annäherung beider Theorien dargestellt.

5.2 Reihenfolge der Theorien
Zunächst wird Essers Theorie vorgestellt, dann Luhmanns Theorie. Letztere wird auf der dreifachen Seitenanzahl nicht nur vorgestellt sonder direkt diskutiert, beispielsweise wird "zentralen Annahmen von Luhmann widerspr[o]chen" (89). Durch diese Reihenfolge, aber auch aufgrund der Anzahl der Seiten erscheint es zunächst so, also ob Luhmanns Theorie mit der von Esser kritisiert wird - es also ein Ungleichgewicht zu Gunsten Essers Theorie gibt. Erst bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass dies weniger der Fall ist. Andererseits - so Greshoff mündlich  (hier nicht autorisiert) - ist Kritik ein Hilfsmittel um Vergleiche produktive zu gestalten oder erst möglich zu machen. Dem ist sicherlich zuzustimmen.

5.3 Anschein einer einseitigen Beobachterposition.  Bias in Bezug auf die ersten beiden Erklärungsschritte:
5.3.1 Erklärungsschritte
Greshoff betrachtet primär die ersten beiden der drei Erklärungsschritte: die Logik der Selektion und die Logik der Selektion (Fn3) - Ausnahme: die "zirkulären Abweichungsverstärkung" und "Aggregation" (116 f.). Soziologisch spannender wäre es, die Logik der Aggregation stärker in Augenschein zu nehmen (Fn4). Denn auch "Esser unterstreicht, dass für eine vollständige Erklärung eines sozialen Phänomens immer alle drei Logiken bearbeitet werden müssen" (Schimank 2010: 25). Vielleicht bieten weitere Texte von Greshoff dazu mehr Anhaltspunkte - wie beispielsweise Greshoff (2003). Der Rezensent vermutet, dass auch Luhmann nicht bestreiten würden, dass intentionale Erwartungen beteiligter psychischer Systeme "Einfluss" auf das Kommunikationssystem besitzen, jedoch höchsten über den Umweg der strukturellen Kopplung. Zwar wird "nicht-intendierte Folgen" (84), "Transformationsbedingungen" (85: Fußnote 14) gesprochen, jedoch in Kapitel 3 kaum noch im Vergleich zur Systemtheorie ausgeführt. Dies war vermutlich auch nicht zwangsweise intendiert und wird wohl auch kaum ausgeschlossen.

5.3.2 die "multiple Konstitution" ist ein Synonym eines Beobachters in der Umwelt

A) Systemreferenz Umwelt vs. System
Ist die multiple Konstitution wirklich akteurstheoretisch soviel anders als die systemtheoretische Betrachtungsweise der doppelten Kontingenz? Ist der Unterschied nicht eher nur in der Systemreferenz des Beobachters zu suchen, d.h. soziale Systeme als Produktioninstanzen" (112) bzw. operativ selbstreferentes System (Kommunikationsprozess)? Die Sicht aus der Umwelt auf Interaktionssystem durch die Brille der "multiplen Konstitution" macht kaum die "Annahme einer strukturellen Kopplung ((Abschnitt, L.E.) Nr. 18) überflüssig" (112), denn nur so können psychische Systeme an sozialen Systemen 'teilnehmen'. Und dass Stichweh dies anders als Greshoff sieht (112, Fußnote 37) ist nahe liegend, da man Stichweh u.a. als Lehrstuhlnachfolger von Luhmann vermutlich eher als Systemtheoretiker als einen Akteurs- oder Handlungstheoretiker (wie Esser) bezeichnen darf.

Wenn Greshoff die folgende These impliziert, dass "Produkte dieser Prozessoren (oder psychischen Systeme, L.E.) das soziale System [bilden], die Prozessoren inklusive deren Produktionstätigkeiten sind relativ dazu Umwelt", dann wird der Unterschied zu Luhmanns Standpunkt deutlich wenn man sich das Wort "inklusive" genauer vergegenwärtigt. Denn an dem Punkt würde Luhmann widersprechen, da die Produktionstätigkeit psychischer Systeme (Gedanken) etwas anderes ist als die von sozialen Systemen (Kommunikation), auch wenn sie die gleiche Operationsweise (Autopoiesis) nutzen, was jedoch eine Komplexitätsebene tiefer anzusiedeln wäre. Aber in der Tat weist Greshoff - mündlich  (hier nicht autorisiert) - zurecht auf das Problem, wer oder was denn diese Operationsweise des Kommunikationsanschlusses durchführt? Es müssen doch die Prozessoren sein?

Insofern ist es unproblematisch, dass gesamthaft die Betrachtungsweise des Systems aus der Umwelt eingenommen wird, was zwar bei dem Begriff der "multiplen Konstitution" (112) durchschimmert,. Multiple Konstitution darf man jedoch nicht als fundamentalen Begriff Luhmanns aufwerten, wie dies in Greshoffs Artikel den Anschein hat. Luhmann hat zumeist die systemimmanente Perspektive der Selbstreferenz oder Autopoiesis inne. Luhmann nutzt in seinem Werk soziale Systeme die These der "multiplen Konstitution" (Luhmann 1984: 60, Abschnitt 10) nach Meinung des Rezensenten eher als Einleitung zur Diskussion hin zur "operative[n] Ebene bzw. [den] Systemprozesse[n]" (Luhmann 1984: 67, Abschnitt 11) und zu "selbstreferentielle[n] Systemverhältnisse[n]" (Luhmann 1984: 68, Abschnitt 12). 

Es bleibt jedoch ohne Frage das Problem laut Greshoff mündlich (hier nicht autorisiert), wer oder was erzeugt eigentlich diese Selbstreferenz? Das müssen eben die Prozessoren sein.


B) Elimination einer noch zu bewährenden These
Greshoff braucht somit nicht zwischen operationaler Schließung und fremdreferentiellen Verweis auf Information in der Umwelt genau genug zu unterscheiden, wenn er im Rahmen der multiplen Konstitution überlegt dass "soziale Systeme [...] keine Poiesis-Komponente [hätten]" und "die Annahme einer strukturellen Kopplung (Nr. (Abschnitt, L.E.) 18) überflüssig wird" (112). Dies ist logisch zunächst korrekt. Handelnde Akteure brauchen keine Poiesis. Die Frage ist, was man verliert? Man ignoriert dabei den Schließungsmechanismus der Systeme - eine sich noch zu bewährende Hypothese Luhmanns,  soziologisch wäre beispielsweise Diskriminierung ein gutes Beispiel.



5.3.3 vier Akteurmodell nach Schimank (2010)
Könnte nicht statt intentionalem Handeln (eher Homo Oeconomicus) die drei anderen Akteurmodelle von Schimank (2010) mitbetrachtet werden: der Homo Sociologicus, Emotional Man und Identitätsbehaupter? Dies würde vielleicht an den berechtigen Hinweis Greshoffs anschließen, dass Esser "von Nutzorientierung [...] ausgeht" und dazu "bei Luhmann kaum Entsprechung [...] herauszuarbeiten [ist]" (117 f.)

5.4 Sinn beachten
Sinn als vielleicht zentrale Kategorie bei Luhmann könnte mehr betrachtet werden - Ausnahme: "'Sinn' [...] [als] Selektions-Modus der Informationsverarbeitung"(117). Insbesondere soll laut Luhmann in der selbstreferenten Kommunikation von Alter her gedacht werden. Inwieweit stellen dabei nicht nur intentionale Handlungsabssichten (Greshoff) Bedingungsfaktoren der Interaktion dar, sondern gerade auch Erwartungen, die u.U. nicht intentional sind (was aber widerum bei Intentionalität mitgedacht sein könnte). 

Grundsätzlich müsste man beim Vergleich der Theorien - oder der Nähe ihres Standpunktes - zunächst fragen, ob nicht eher Handlung (Esser) als Kommunikation mit Sinn (Luhmann) die zentrale soziologische Kategorie darstellt. 

Die Tatsache, dass das nicht näher untersucht wurde, heißt aber nicht, dass es deswegen ausgeschlossen wird. Greshoff stellt dies mündlich dar (hier nicht autorisiert), dass es natürlich sinnhafte soziale Phänomene gibt oder Aggregationen, welche durch Sequenzen von Handlungen entstehen. Sinn ist dabei - so Greshoff - eher übergreifend - also oberhalb von sozialen Systemen - zu sehen (hier nicht autorisiert).


5.5 Stichpunkte zur weiteren Diskussion im Theorievergleich
5.5.1 was ist mit Semantik/Ges.Struktur?
5.5.2 wie sind SGKM zu verorten?
5.5.3 Attribution/Zurechnungsprozess?
5.5.4 funktionale Differenzierung?
5.5.5 Weitere Analyse (112 ff.)
- Stichpunkt: Gedanke = Verstehen, Rede = Mitteilung (112).
Das klingt ein wenig nach Synonymen. Vermutlich hat Luhmann mit der Ablehung von Gedanke/Rede eher das klassische Kommunikationsmodell (Sender-Empfänger) im Hinterkopf gehabt. Greshoff ist Recht zu geben, dass auch hier der Unterschied nicht so groß ist. Interessant ist hierbei die folgende Aussage Luhmanns einzuordnen: "Das Bewußtsein beteiligt sich an der Rede redend und schweigend. Es kann planen, was es sagt, und verschweigen, was es nicht sagt. Es kann sich beim Reden beobachten und korrigieren. Es kann merken, daß das Gesagt nicht ganz trifft, was gemeint war" (Luhmann 2008: 189).
5.5.6
- Ressourcenkontrolle versus Erwartungen
"Esser [bindet] Handeln an die Annahme, dass die jeweiligen Gegenüber Ressourcen kontrollieren" (113). Das ist insofern "konkreter" (113) als Luhmann eher von Erwartungen spricht. Letzteres schließt erstes nicht aus, sondern ist auf einer abstrakteren Ebene angelegt.
5.5.7
- "Selektionen [...] haben [...] einen intentionalen Charakter" (113).
Das ist insofern nachvollziehbar, weil laut Kron (2002) bei Luhmann offen ist, wie und warum eigentlich selektiert wird. So auch Greshoff, dass "Selektionswahlen [...] bei Luhmann wenig Programm [haben]" (116). Das ist offenbar ein eher empirisches Problem für Luhmann.
5.5.8
- "overte Handlung" (114). Das mögen die an anderen orientierten Erwartungen sein. Hier ist soziologisch der Unterschied höchstens Handlungs versus Kommunikation. Da letztes eher auf eine Sinntheorie von System/Umweltbezogen ist, ersteres aber auf das Badewannen-Modell ist es ein architektonischer Unterschied. Was die "Ermöglichung des Sozialen" (112, kursiv. im Ori.) besser beschreibt, muss sich wohl erst bewähren.
5.5.9
- Makro/Mikro-Selbstbeschreibungen
"Esser Akteur [wählen] einen ihrer Ansicht nach passenden Frame", der [...] gestlegt [...] was der Code/das Oberziel ist" (115).
  1. Einerseits Frame, andererseites Codes im Rahmen von Strukturen, der Unterschied scheint nicht groß. Makroebene: "Frames [...] implizieren [...] eine sozialsysteme Perspektive, [...] was Luhmann soziale Selbstreferenz nennt" (115). 
  2. Andererseits: Auf der "Mikroebene gibt es ebenfalls eine Selbstbeschreibung [...] - Stichwort 'Verschränkung von Perspektiven' [...] Code und Skript" (115).
5.5.10
Es scheint alles wirklich ähnlich zu sein.
- "Person ist [...] Teil der [...] Makro- - Selbstbeschreibung" (116)
5.5.11
- Struktur
Es folgen die Erklärungsschritte 1 und 2. Es werden "strukturelevante[...] Erwartungen und Bewetungen [...] reproduzier[t]" (116).
5.5.12
Was meint Nassehi mit der "Voraussetzung der Erklärung" (Nassehi 2003: 23 zit. in 81) genau? Wird Greshoffs Gegenargument dieser Kritik gerecht? Nassehi scheint eher selbstreferent zu argumentieren, möchte zunächst die Frage nach der Erklärung der Erklärung stellen, also offenbar zunächst klären, was denn eine Erklärung überhaupt sei oder ob man methodisch Essers Vorgehensweise als Erklärung - quasi von außen zur Gesellschaft - benutzen kann. Dagegen richtet sich Greshoffs Gegenargument darauf, dass Nassehi die sozialen Situation als Voraussetzung der Erklärung meint. Es scheint so, also ob hier ein wenig aneinander vorbei geredet wird. Diese Argumentationen müsste genauer untersucht werden.

Zugleich müsste die Bemerkung, dass Schneider ähnlich wie Baecker und Nassehi verkürzt Essers Theorie kritisiert (81: Fußnote 8), genauer untersucht werden.

5.5.13 "overte Handlungen" (82) und coverte Handlungen vs. Systemtheorie.
Die Systemtheorie interessiert sich eher "nur" für overte Handlungen (am Alter orientiert, doppelte Kontingenz). Nur diese Handlungen sind soziologisch interessant. Coverte Handlungen würden vermutlich eher dem psychischen System zugeordnet. Insofern lässt sich die Unterscheidung overt/covert mit der Systemtheorie schwer vergleichen.


5.5.14
Zur strukturellen Kopplung wird dagegen nicht eingegangen (siehe unten). Desgleichen ist der Kritikpunkt Gedanke = Verstehen, Rede = Mitteilung (112) schwer nachvollziehbar, da es eher um Synonyme geht. Wichtiger wäre es eventuell diese Aussagen Luhmanns nicht zu hoch zu bewerten, zum einen ist der Text von Luhmann von 1984 eher als Einführung zu sehen, zum anderen müsste man alle Texte insbesondere sein Abschlusswerk (Luhmann 1997).

5.5.15
Greshoff schreibt, dass Luhmanns behauptet "seine Konzeption  sei gegenüber methodologisch-individualistisch fundierten Positionen radikal verschieden grundgelegt" (79). Zum einen fehlt eine Angabe der Quelle, zum anderen muss eine solche Aussage vermutlich in den Kontext von Abgrenzungsversuchen eingeordnet werden. Es geht eher darum, die eigene Theorie darzustellen, als diese mit anderen zu vergleichen. Ähnlich ist auch Essers Motivation zu verstehen, dass sie laut Greshoff "sehr verkürzt - geradezu karikaturhaft - diskutiert wird" (78). Auch hier fehlen Quellenangaben. Trotz der beiden fehlenden Quellenangaben kann der Rezensent die Einschätzung Greshoffs teilen, dass bei der jeweiligen gegenseitigen Beurteilung Esser vs. Luhmann ein "Schieflage" (79) herrscht - auch wenn sie sowohl aus Sicht Essers als auch Luhmanns nachvollziehbar ist.


Fußnoten (Fn) 
(Fn1) Diese Unterscheidung Individualistisch/Holistisch entstammt dem großartigen Hinweis von Prof. Rainer Schützeichel u.a. in der Ankündigung zum Seminar im Vorlesungsverzeichnis ekVV der Uni Bielefeld (hier nicht autorisiert).
(Fn2) Essers Erklärungsmodell  basiert auf der Coleman'schen Badewanne, findet man es in Kapitel 6 aus Essers Soziologie-Einführungsbuch hoch: "Die Grundstruktur soziologischer Erklärungen" (Esser 1999: 6). Das Erklärungsmodell "geht zurück auf David McClelland, James Coleman und Siegwart Lindenberg" (Schimank 2010: 16, Fn. 6).
(Fn 3) Zu diesen drei Erklärungsschritten: Vgl. Schimank (2010: 21 ff.).
(Fn 4) Ähnlich argumentiert auch Schimank (2012), wenn er meint, dass gerade in der Logik der Aggregation die soziologische Herausforderung steckt.

Literatur
* Greshoff, Rainer (2005): Soziologische Grundlagen kontrovers: erklärende Soziologie (Esser) versus soziologische Systemtheorie (Luhmann) - wie groß sind die Unterschiede? In: Uwe Schimank und Rainer Greshoff (Hg.): Was erklärt die Soziologie? Methodologien, Modelle, Perspektiven. Berlin: LIT, S. 78–119.

---Literatur
* Esser, Hartmut (1999): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Campus.
* Greshoff, Rainer (2003): Kommunikation als subjekthaftes Handlungsgeschehen - behindern "traditionelle" Konzepte eine "genaue begriffliche Bestimmung des Gegenstandes Gesellschaft"? In: Hans-Joachim Giegel und Uwe Schimank (Hg.): Beobachter der Moderne. Beiträge zu Niklas Luhmanns "Die Gesellschaft der Gesellschaft". Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 71–113.
* Greshoff, Rainer (2005): Soziologische Grundlagen kontrovers: erklärende Soziologie (Esser) versus soziologische Systemtheorie (Luhmann) - wie groß sind die Unterschiede? In: Uwe Schimank und Rainer Greshoff (Hg.): Was erklärt die Soziologie? Methodologien, Modelle, Perspektiven. Berlin: LIT, S. 78–119.
* Greshoff, Rainer (2010): Brauchen wir eine neue Theorienvergleichsdebatte? In: ZfS-FORUM: Theorieproduktion: Vom Vergleich zur Integration? 2 (1), S. 1–12. Online verfügbar unter http://www.zfs-online.org/index.php/forum/article/viewFile/3040/2574, zuletzt geprüft am 10.12.2014.
* Kron, Thomas (Hg.) (2002): Luhmann modelliert. Sozionische Ansätze zur Simulation von Kommunikationssystemen. Opladen: Leske + Budrich.
* Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
* Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
* Luhmann, Niklas (2008 [1995]): Wahrnehmung und Kommunikation sexueller Interessen. In: Niklas Luhmann (Hg.): Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch. 3. Aufl. Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwiss (Soziologische Aufklärung / Niklas Luhmann, 6, Ed. 3), S. 180–193.
* Schneider, Wolfgang Ludwig (2003): Handlung - Motiv - Interesse - Situation. Zur Reformulierung und explanativen Bedeutung handlungstheoretischer Grundbegriffe in Luhmanns Systemtheorie. In: Hans-Joachim Giegel und Uwe Schimank (Hg.): Beobachter der Moderne. Beiträge zu Niklas Luhmanns "Die Gesellschaft der Gesellschaft". Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 42–70.
* Schneider, Wolfgang Ludwig (2008): Wie ist Kommunikation ohne Bewusstseinseinschüsse möglich? Eine Antwort auf Rainer Greshoffs Kritik der Luhmannschen Kommunikationstheorie. In: Zeitschrift für Soziologie (ZfS) 37 (6), S. 470–479. Online verfügbar unter http://zfs-online.org/index.php/zfs/article/viewFile/1286/823, zuletzt geprüft am 12.12.2014.
* Schneider, Wolfgang Ludwig (1994): Intersubjektivität als kommunikative Konstruktion. In: Peter Fuchs und Andreas Göbel (Hg.): Der Mensch, das Medium der Gesellschaft? Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 189–238.
* Schimank, Uwe (2010 [2000]): Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. 4., völlig überarb. Aufl. Weinheim: Juventa.
* Schützeichel, Rainer (2014): BA-Studiengruppe "Soziologische Theorie". eKVV: WS2014 / 300039. Universität Bielefeld. Online verfügbar unter http://ekvv.uni-bielefeld.de/kvv_publ/publ/vd?id=51029318, zuletzt geprüft am 18.10.2014.

Samstag, 15. November 2014

Sinn und fünf Beispiele bei Luhmann: Rose, Telefon, Schere, Machthaber, keine Familie verachten

Im Folgenden wurden drei Beispiele aus Luhmanns Original zur Erklärung von Sinn im Rahmen von Sinnevolution (Gesellschaftsstruktur- und Ideenevolution) aufgelistet (Luhmann 2008):

(Es sollte in dem Zuge erwähnt werden, dass man sich das Buch unbedingt zulegen sollte. Zum Exzerpt des Textes siehe http://soziale-systeme-niklas-luhmann.blogspot.de/2014/11/exzerpt-zu-sinn-selbstreferenz-und.html).

1) Warum man nie den Telefonhörer abnehmen würde, wenn man wüsste wer dran ist (Luhmann 2008: 18 f.)?



2) Warum ist eine Rose (k)eine Rose (Luhmann 2008: 12)?


3) Warum verschwindet die Welt des Suchens mit einer Schere (Luhmann 2008: 16 f.)?


4) "Will man Kunst genießen, muß man erst mal wissen, wo sie zu finden ist. Der Machthaber braucht auch ein Zimmer, einen Schreibtisch, ein Telephon" (GdG/Luhmann 1997: 406).

5) Luhmann schreibt im Kontext von Moral: "Man kann nicht gut eine ganze Familie verachten, weil einer ihrer Angehörigen im Gefängnis sitzt oder die Tochter ein uneheliches Kind bekommen hat" (GdG: 400).


5) Folgefrage? Und nun an die Arbeit wir SoziologInnen: Was ist Sinn?
a) Siehe  ab Minute 32:08 Happy
b) Sinnhafte Kommunikation?
c) Oder hat es was mit Beobachtung zu tun?

criticism always welcome, cu, L


-------Literatur
* Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
* Luhmann, Niklas (2008 [~1985 (Fn. 1)]): Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution. In: Niklas Luhmann (Autor) und André Kieserling (Hg.): Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7–71.



Freitag, 7. November 2014

Exzerpt zu "Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution" (Luhmann 2008 [~1985 (Fn. 1)])

1 Überblick
1.1 Kurzgefasst:

Evolution ist selbstreferentielle Sinnevolution, wobei zwischen gesellschaftsstruktureller und semantischer (Sinn-)Evolution unterschieden werden muss.

1.2 Genauer:
  1. Luhmanns zentrale These ist, dass die Evolution der Gesellschaft selbstreferentielle Sinnevolution ist. Beispielsweise wird  aufgrund  der Verweisungsstruktur von Sinn (auf andere Möglichkeiten) beim Anschluss von Sinn an Sinn Variation ermöglicht (10, 57). 
  2. Zudem werden die Mechanismen der Evolution in der gesellschaftsstrukturellen Evolution (das ist Sinnevolution in Form von Systemdifferenzierung) und in der semantischen Evolution (das ist Sinnevolution als Ideenevolution) weiter auseinandergezogen und dadurch mit reicheren Kombinationsmöglichkeiten ausgestattet werden" ( 60).

2 Zu den Kapiteln
I. Einleitung: Das Konzept der Evolution
Evolution ist weder ein gesetzmäßiger Prozess, noch kann sie mit einer (Kausal)faktorentheorie behandelt werden (7). Statt Einheit muss mit "der Differenz von Variation und Selektion" begonnen werden (8). Man müsse von Kleinstereignissen des Alltags ausgehen und trotzdem Effektaggregation erklären. Es geht darum, wie man Sinn in die Evolutionstheorie einbringt, unter anderem wegen der "Unwahrscheinlichkeit der Evolution" (9). Die Differenz der Mechanismen Variation, Selektion und Restabiliesierung liegt alle Evolution auf der ersten Ebene zu Grunde (9). Hinzu kommt der Zufall (9).

II. Zentrale Fragestellungen: Erweiterung der Evolutionstheorie um Sinn als selbstreferentielle Reproduktion (10 ff.)
Die zentralen Fragen (und ihre Antworten) des Artikels sind:
  1. Wie auf der Ebene sinnhafter Operation eine abweichende Operation zustande kommt (10)? Antwort: durch Fehler in der Selbstreproduktion (10). Aber dadurch stellt sich die Frage: Sind das Abweichungen zum normalen Kontext (vgl. Kapitel III: 18)? Mehr siehe Kapitel IV: 23.
  2. Aber wie stehen dann die Reproduktion für Variation und Selektion offen, ohne seine Geschlossenheit einzubüssen (12)? Antwort: Durch getrennte Sinndimensionen, siehe Kapitel IV. Für Variation siehe auch Anwort X.2, Für Selektion siehe auch III.2.
  3. Wie entwickeln sich selbstreferentielle Systeme auf Basis von Sinn? Antwort: Verweis auf Mögliches, Repression, Rückkehr auf Aktuelles und Instabilität. (Siehe Kapitel III Sinn und Evolution).


III. Was ist Sinn in Bezug auf Evolution?


    III.1 Was ist Sinn
    Sinn ist die Einheit der Differenz von Aktualität oder Wirklichem (Selbstverweis auf den Sinnkern als intendierbarem Sinn) und Possibilität oder Möglichem (Verweis auf andere Möglichkeiten)(12 f., 15). Dazu "gehört ein notwendiges Moment der Instabilität. Weder Bewußtsein noch Kommunikation können beim einmal gemeinten Sinn verbleiben. Sie müssen ihn verlassen und einer der Verweisung nachgehen, sie müssen weiteres Erleben oder Handeln anschließen" (13, Hervorh. im Ori.). "Stabilität [wird] durch Rückkehr zum Ausgangssinn wiedergewonnen" (13).

    Evolution in der Sinnwelt ohne Grenzen bedarf der Reduktion (Ordnung ist Reduktion) und der Differenz (Ordnungsaufbau) (14). Hierbei ist Welt ein mitaktualisierter Horizont, aber die Aktualisierung erfolgt selektiv (15).

    "Selbstreferenz (Zirkularität) und Differenz sind zugleich die Voraussetzungen [...], dass Ereignisse Informationswert" (durch Selektion über Sinn (Selbstreferenz/Differenz)) gewinnen (16). Ihr Neuigkeitswert und ihr Anschlußwert besteht darin, daß sie (die Information, L.E.) eine Entscheidung triff und damit den Wahlbereich einschränkt" (16). Also Selektion:

    III.2 Selektion
    (siehe auch Frage 2, oben)
    1. "Selektion muß für ein selbstreferenzieles System einen einen Unterschied  ausmachen" (17). "Im Gebrauch [...] in Differenz zu anderen" kann erst "Information auftreten [...] und Direktionswert für Anschlußselektionen gewinn[en]". (Mathematisch:){Selektion -> Information & Anschlussdirektion = f(verfügbaren Differenzen)}
    2. Bei der Selektion wird "mithin ein Kontext voraus[ge]setzt, der von Momentn zu Moment variiert" (18), {Selektion=f(Kontext)}
    Der Wiedereintritt (Re-Entry) von Sinn in Sinn reproduziert den Kontext (18), (siehe unten Fragen dazu).  Durch Re-Entry verschmelzen Horizonte verschiedenen Sinnes zur Welt (19).

    IV. Die Reproduktion von Sinn in den Sinndimensionen (19 ff.)
    Nur durch Sinnreproduktion ist Evolution möglich (19). Die die Sinnreproduktion sinnkonstitutierende Differenz wird trotz laufender Selektion erhalten (20).

    Es stellt sich die Frage: Wie stehen dann die Reproduktion für Variation und Selektion offen, ohne seine Geschlossenheit einzubüssen (12)?  Antwort: Abweichungen kommen nur durch die Sinndimensionen zustande (20)

    1. Sachlich: Es "treten an Formen und an Systemen Innen- und Außenhorizont auseinander" (20).
    2. Zeitlich: Es "lassen sich in der Gegenwart Zukunft und Vergangnheit trennen" (20)
    3. Sozial: Es differieren die Perspektiven von Ego und Alter" (20).

    Gründe, dass mit diesen Sinndimensionen je getrennt variiert und selektiert werden kann sind

    A) verschiedene Zusammenhänge von:
    1. Die Unterscheidbarkeit und Eigenprägnanz dieser Dimensionen (21),
    2. der Form der Differenzierung des Gesellschaftssystems (21)
    3. dem Tempo der soziokulturellen Evolution
    B) das Reflexivwerden von Evolution (21):

    1. sozial: Es wird simplifiziert durch Werte (21) 
    2. Zeitlich: jede Gegenwart hat ihre eigenen Zukunfts- und Vergangenheitshorizonte (21)
    3. sachlich: ist schwierig aufzuweisen. Es ist scheinbar so, dass Objektivität durch eingebaute Selbstdeskription definiert wird (21)
    Durch die Sinndimensionen ist Strukturbildung möglich, beispielsweise Verhaltenserwartung (22).

    Als Antwort auf die Fragewie auf der Ebene sinnhafter Operation eine abweichende Operation zustande kommt (10)? Antwort: durch Fehler in der Selbstreproduktion (10): "Nichtidentische Reproduktion scheint im wesentlich folgende Quellen zu haben" (23):

    1. Rückgriff auf Bekanntes und
    2. zufällige Ereignisse (wie die Registrierung eines Ereignisses in nützlich/schädlich) (23).

    Diese Morphogenese durch Sinn modifiziert Strukturen (23).

    V. Warum bilden sich Systeme im Operationsmodus Sinn? (24-40)
    Antwort: Da sie Träger der Reduktion der Komplexität sein müssen (25).  Dies ist erforderlich, da Sinn eine Verweisungsstruktur auf Mögliches beinhaltet. D.h. die "Sinnevolution erzeugt, um sich zu ermöglichen, Systeme" (28). Aber auch Systeme"profitieren davon, daß sie Komplexität in der Form von Sinn erfassen und verarbeiten können" (28), was im folgenden Abschnitt als "evolutionäre Errungenschaft"(28) behandelt wird. Oder anders gefragt:

    VI Was ist gewonnen, wenn Evolution mit Sinn operiert? Antwort: Eine "Erweiterung des Potentials für Informationsverarbeitung, die die Evolution von Sinn befördert" (28 ff.)

    Antwort (allgemein): Es kann sich an (Sinn)-Differenzen orientiert werden, so dass Systeme gebildet werden, die bei geringerer Zahl an Elementen größere Kombinationsmöglichkeiten (wegen der Differenzen) aufweisen. Aber wie funktioniert das?
    (Exkurs L.E.: Luhmann nimmt also (System)-Stabilität als gegeben hin, was empirisch auch haltbar ist, denn Gesellschaft existiert schon lange. Deswegen spricht er von "profitiert" oder von "gewonnen", womit er impliziert, dass "die" Gesellschaft vom Operationsmodus Sinn profitiert oder evolutionäre Errungenschaften gewinnt).
    Der Gewinn lässt sich in fünf Hinsichten charakterisieren - jeweils in Bezug auf
    1. Systemgrenzen, damit es "Unterschiede, Diskontinuitäten, Konflikte in der Umwelt sehen kann" (29), beispielsweise das Freund-Feind-Schema (vgl. S. xx)
    2. Kausalität, damit sie "als hypothesengenerierendes Prinzip benutzt werden" kann, d.h. für das "Voraussehen mutmaßlicher Wirkungen" (33).
    3. Kontingenz, damit man zum Sinnkern nicht zurückkehren muss (34).
    4. Erwartungsbildung, da sie "der Präzisierung einer Differenz [dienen], die sich erst an ihnen zeigen kann: der Differenz von Erwartungserfüllung und Erwarungsenttäuschung" (36). Erwartungsenttäuschung unterscheidet sich dabei in Enttäuschungen, die "man anerkennen [...] will, und [...] die man enttäuschungsimmun festhalten will"(37). "Diese Differenz übernimmt nun die Führung der semantischen Evolution: sie etabliert sich in der Unterscheidung eines kognitiven (lernbereiten) und eines normativen (nicht lernbereiten) Erwartungsstils" (37, Hervorh. im Ori.).
    5. Neuheit, damit es redundante Möglichkeiten schafft (39), oder: "Was neu ist, ist fast zwangsläufig besser" (39). Diese Redundazu ist wiederum Voraussetzung zur Variation ist (27).
    Diese "fünf Gesichtspunkte der Sinnverwendung [...] hinterläßt den  Eindruck, dass die Evolution von Sinn eine Linie der Steigerung und der Dramatisierung verfolgt, die ins immer Unwahrscheinlichere führt" (40)

    VII Die Differenz sakral/profan (40-
    Sie ist evolutionäre wichtig, da sie der im Sinn (in seinen Verweisungen) immanenten Ungewissheitserfahrung (dem Unfassbaren) Form, Namen und Ort gibt (40 f.). Dies erfolgt beispielsweise als sakrales Ritual oder Kult in der Religion (42). Mit der "Einheit der Differenz von sakral und profan [...] kann sie jede Situation, ohne vorweg zu wissen welche, in ein religiöses Schema der Informationsbehandlung überführ[t]" werden, d.h. "das Mitwirken des Außeralltäglichen zu erfahren und zu thematisieren"  (42, Hervorh. im Ori.). Noch tieferliegend wird diese Differenz über Duale wie Sünde/Gnade bis hin zur Frömmigkeit entdifferenziert, was mit der modernen Gesellschaft scheitert (45 f.). Die ausdifferenzierte Religion stellt um auf undifferenzierte Positivvorstellungen (45), beispielsweise die Güte Gottes (L.E.).

    VIII Sinn und Selbstreferenz in der Evolution und die Steigerung von Komplexität durch sekundäre Sensibilitäten
    Sinn und Selbstreferenz sind tragende Merkmale der Evolution und führen zu strukturelle aber auch bestimmbarer Komplexität ((46 f.). "Die Umformung von Überraschung, 'noise' in informativen Sinn; der dann selbstreferentiell zugänglich bleibt, setzt deren (sinnhafte, L.E.) Reproduktion mit in Gang" (45). Neben "'fehlerhafter' Reproduktion wird Variation und damit weitere Evolution am tradierten Sinngut ermöglicht. Ein Beispiel ist die Evolution der Liebessemantik (46 f.), An dieser lässt sich zeigen, wie der Sinn von Evolution auf Evolution zurückprojiziert wird (Fn. 2): Zuerst Plaisier, dann Liebe, dann Ehe. Es geht somit um die "Steigerung von Komplexität durch sekundäre Sensibilitäten" (50). Jedoch kann "Evolution nicht schlichtweg als zunehmende Differenzierung begriffen werden" (53, vgl. Kapitel XI).

    "[W]enn die Evolution in Richtung auf ausgearbeitete, bestimmte oder doch bestimmbare Komplexität läuft, wird Unbekanntes, Überraschende, Unweahrschinliches zunehmend deutbar" (47).

    Die Umstellung der Gesellschaft auf Eigendymik statt Außenanstöße erzeugt u.a. semantische Paradoxien (Widersprüche), was sich evolutionär als vorteilhaft herausstellt, wenn sich dadurch sozialstrukturelle Evolution und Ideenevolution gegeneinander ausdifferenzieren. Dadurch "gewinnen Simulationen, also gedankliche Vorweg- oder Alternativprozesse an Bedeutung und im Zusammenhang damit wiederum: distanzierende Semantik", wie beispielsweise "die aristotelische Isolierung [...] der Natur" (48).

    Zur Anschlussfähigkeit bedarf es der Speicherfähigkeit des Gedächtnisses (48).

    Fortsetzbarkeit ist nicht garantiert wegen der Wahrscheinlichkeit von Fehlern, weswegen es jedoch Warnsemantik und- als progressiv geltende - Bewahrung von Errungenschaften gibt (49).

    IX. Die evolutionäre Begünstigung von Funktion und die zunehmend funktionale Differerenzierung aufgrund von Komplexitätszunahme
    Funktionen werden entdeckt, wenn man Verweisungen als Probleme fasst (50). Evolution ist dann über funktionale Äquivalente zu begreifen, wenn äquivalente Lösungen die gleiche Funktion erfüllen (50). Sie ermöglichen somit die Gleichheit von Ungleichheit (50). Diese Differenz wird "durch Funktionen geordnet und gegebenenfalls gesteigert" (51). Sie geben zusätzlich Anschlusswert (die Funktion der Funktione, wie "Poesie und Prosa als funktional äquivalente Formen" (51).

    Gleiches wird mit Differenz angereicht und dadurch informationswirksam (52).

    Funktionen können Sensibilität für Differenz schärfen, je nachdem wie sie Gleichheit anstezen, beispielsweise Recht und Moral in Bezug zur Natur oder zum menschlichen Verhalten (53).

    Evolution ist nicht schlichtweg funktionale Differenzierung, sonder auch Eliminierung von Differenz, wie beispielsweise die vita activa/contemplativa (53). Ursache ist hier der Prozess der funktionalen Differenzierung. Grundsätzlicher ist immer die Form der primären Differenzierung (das Primat) zu berücksichtigen, da die Funktion mit der System-Umwelt-Differenz des Gesellschaftssystems gleichgeschaltet wird; beispielsweise verliert vieles aus der Stratifikation an Überzeugskraft in der der modernen funktional differenzierten Gesellschaft (54). Funktion wird somit zum evolutionären Regulativ. weil sie Differenz präzisiert und trotz Unwahrscheinlichkeit verhaltenswirksam machen kann (54).

    X) Sinnevolution und die Verfestigung in der Differenz von Gesellschaftsstruktur und Semantik
    X.1 Sinnevolution Sinn evoluiert als autopoietische Reproduktion und verfestigt sich in der Differenz von Gesellschaftsstruktur (d.h. Systemdifferenzierung, um Verhaltenserwartungen zu separieren) und Semantik (d.h. Ideen, 'Kultur' oder Formen, die die Reproduktion von Sinnerleben steuern)(55 f.). Beide verändern sich wechselseitig, d.h. die evolutionäre Gesellschaftsstruktur kann die Plausibilitätsgrundladen der Semantik verändern (siehe oben Stratifikation) (56 f.). Genauso wie eine gewisse 'Vorleistung' der Ideenevolution, welche noch reproduktionsfähige Kontingenzen erhöhen kann (57), was aber nicht zwangsläufig zu Änderungen der Gesellschaftsstruktur führt (L.E.). In beiden Fällen scheint eine wichtig Voraussetzung zu sein, dass Sinn, und somit der Anschluss von Sinn an Sinn, eine höhere und raschere Variation ermöglicht (57). "Jedenfalls bleibt in der tradierbaren Semantik eine ungewählicher Selektionsspielraum erhalten" (58). Dabei ist "[b]is heute Kontingenz das Signum und das Problem der Moderne geblieben" (58). Hierbei gilt für die Funktion, dass sie immer nur einn Vergleichspunkt unter anderen auszeichnet, immer relativiert, wird Kontingenz reproduziert und nicht ins Notwendige zurücktransformiert (58).

    X.2 zur Variation
    (siehe Frage 2 oben)
    Man kann vermuten, dass die mit Kontingenz bezeichnete "Erweiterung der Variations-, Anschluß-, Kombinations- und Reproduktionsmöglichkeiten von Sinn als Resultat von Evolution in die evoluierenden Sinnsysteme selbst eingebaut worden ist" (59, Hervorh. im Ori.). "Vor allem aber festig sich durch diese Entwicklung die Differenz von Gesellschaftsstruktur und Semantik. Sie wird irreversibel in die Evolution von Sinn hineingeschrieben" (59, Hervorh. im Ori.). Wäre beides eine Einheit, könnte man "Variation nicht riskieren [...] (Antwort zur Frage 2 oben, L.E.). Die Differenzierung ermöglicht es, Ideen gleichsam spielerisch zu variieren [...]. Sie ermöglicht es, Realfolgen neuer Semantiken außer acht zu lassen oder in eine illusionäre Welt, eine bessere Welt zu verlagern. Und auf der anderen Seite können gesellschaftsstrukturelle Veränderungen, die man nicht wagen könnte, unbemerkt anlaufen und in sich in der Plausibilität neuer Ideen abstützen" (59). "[D]ie Mechanismen der Variation, der Selektion und der Restabilisierung in der gesellschaftsstrukturellen und in der semantischen Evolution werden weiter auseinandergezogen und dadurch mit reicheren Kombinationsmöglichkeiten ausgestattet werden" (60)  (Fn 3).

    XI) Die Evolution der Evolutionstheorie
    "Das Bezugsproblem [...] ist die mit zunehmender Komplexität des Gesellschaftssystems zunehmende Rlevanz der Zeitdimension" (62).  Die "Evolutionstheorie befasst sich also mit allgemeinen Problemen des Entstehen und Vergehens von Ordnung [...], mit dem Tempo, in dem dies geschieht, umd mit der immer höheren Unwahrscheinlichkeit des Resultats" (66). Die Frage nach wohlüberlegtem (deliberate) Wandel ist die Frage nach der Differenz von Evolution und Planung (63). Zwei Fragestellungen sind dann relevant: [W]ie weit kann das System planmößig geändert werden? [...] [W]ie ist eine Evolution hyperkomplexer Systeme möglich? (68). "Die Evolutionstheorie muß dann reflektieren, daß in der Menschengesellschaft Planung vorkommt als eine Art von Beschleunigung von Zufällen und Katastrophen" (63). "[D]ie Ziele der Planer [wird] bestenfalls als Material für Variationen und Selektionen verwendet, ohne selbst Ziele zu verfolgen" (64). "[G]eplante Systemtransformation heißt eben nicht: planäßige Systemtransformation" (68). Die Funktion der Evolutionstheorie liegt zunächst nur in der Steigerung analytischer Kapazität (71).

    3 Fragen


    3.1 Zur Repression des Überschusses von Sinn (14)
    3.1.1 Wie sind "Reduktion" und (oder?) "Repression" zu verstehen (14). Ist das eine Art Sub-Mechanismus? Eine Art Metaselektion (bspw. Normen)? Es kann doch nicht reduziert werden, wenn es nicht zuvor der Überschuss produziert wurde? Muss hier an einen Mechanismus der Sozialisation gedacht werden?

    Genauer:
    Wie sind "Reduktion" und (oder?) "Repression" zu verstehen (14), wenn es ein Überschuß an Möglichkeiten durch Sinn gibt und beide "im Sinne eines laufenden Miteinander" gedacht werden müssen? Ist die Reduktion eine Art Sub-Mechanismus, eine Meta-Selektion, die die Auswahl von Selektionen selektiert? Es kann doch nicht reduziert werden, wenn es nicht zuvor der Überschuss produziert wurde? Oder  wird er wegen Repression schon gar nicht gedacht? Oder wird der (potentielle) Überschuss schon der Repression ausgesetzt (wie beispielsweise Normen)?

    3.1.2 Muss nicht eher an ein Mechanismus der Sozialisation gedacht werden, der die Möglichkeiten erst gar nicht zulässt?  Oder wie lässt sich die Sozialisation mit der Sinn-Konzeption und dieser "Reduktion/Repression" denken?

    3.2 Ist die Überschußreproduktion auf Seiten der Semantik und die Repression auf Seiten der Gesellschaftsstruktur zu verorten?


    3.2 Zum Kontext (18)
    3.2.1 Wie ist Folgendes zu verstehen: Reproduziert wird [...] der Kontext der Selektion durch Wiedereintritt (von Sinn in Sinn?) (18)? Erfolgt der Wiedereintritt im Möglichen (also nicht im Aktuellem) des Sinns? Wird so das Mögliche mit Sinn ausgestattet und dadurch eingeschränkt? Ist diese Möglichkeitseinschränkung der Kontext?

    3.2.2 Kann das vielleicht mit "Reduktion/Repression" (siehe erste Frage) zusammen gedacht, also in Verbindung gebracht werden?

    3.3 Reproduktionsfehler (10)
    Zur Frage Luhmanns wie auf der Ebene sinnhafter Operation eine abweichende Operation zustande kommt? Antwort: durch Fehler in der Selbstreproduktion. Meine Frage: Sind das Abweichungen zum normalen Kontext, siehe Frage 3.2?


    4 Fußnote
    (1) Liest man die editorische Notiz von André Kieserling (254 ff.), dass Luhmann den Text im dritten Band der Reihe Gesellschaftsstruktur und Semantik nicht aufnahm (254), und betrachtet man, dass diese Reihe mit den vier Bänden in den Jahren 1980, 1981, 1989 und 1995 erschien (253: Fn. 1), dann kann man vermuten, dass der Text zwischen 1982 und 1988 erschienen sein könnte - die Mitte des Intervalls wäre dann etwa 1985.
    (2) Hier scheint eher die Ausdifferernzierung oder Subsystembildung oder eine Re-Entry der Differenz in die Dzfferenz (Reproduktionen neuer Differenzen) gezeigt zu werden, denn ein Re-Entry der Evolution in die Evolution müsste ja die Evolution ändern (L.E.).
    (3) Eine starke These (L.E.).

    5 Literatur
    Luhmann, Niklas (2008 [~1985 (Fn. 1)]): Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution. In: Niklas Luhmann (Autor) und André Kieserling (Hg.): Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 7–71.

    Sonntag, 2. November 2014

    Exzerpt zu "Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition" (Luhmann 1993a)

    Hauptthese
    Seine Hauptthese ist, dass Semantik und Sozialstruktur korrelieren (siehe Fußnote (kurz Fn.) 1). 

    Im Text plausibilisiert er diese These mit der funktionale Differenzierung im Vergleich zu stratifikatorischer Differenzierung (Ständeordnung).

    Buchklappeninnentext und Vorwort, Definitionen
    Unter Semantik versteht Luhmann "kulturgeschichtliche[s] Material" (1993b: 7). Unter einer "'gepflegten' Semantik" versteht Luhmann "die bewahrenswerte[n] Gesichtspunkte der sozialen Kommunikation [...], [die] aus[ge]arbeitet, konserviert und variiert" wird (1993a: Buchklappeninnentext).
    Weitergehende Definition von Semantik siehe S. 19.
    Definition Latenz (S. 65)

    Kapitel I: Kritik an Historikern
    Luhmann kritisiert die Historiker wegen fehlendes Theoriebezuges (15) (Fn. 2). Zudem ist Wissen standortabhängig (12)

    Kapitel II: Ausdifferenzierung als typifizierter Sinn der Semantik
    Semantik bildet Formen typifizierten Sinns (19) - mit situativen Vorkehrungen wie Rollen (20). Das ist somit Ausdifferenzierung - bestehend aus dem Zusammenhang von Systemdifferenzierung und Komplexität (20).

    Kapitel III: Zum Zusammenhang von Komplexität und Systemdifferenzierung.
    Komplexität ist die intervenierende Variable zwischen Strukturänderungen und Semantik, die sich als emergenter Sinn anpasst (22 ff.), (Fn. 3). Die Semantik der Orientierungserfordernisse zwingt zur Selektion (24); ähnlich wie Normen (L.E.). Dadurch ist Systemdifferenzierung mit Teilsystemen und gesellschaftsinternen Umwelten erforderlich (25). Dies lässt sich wie folgt grafisch darstellen (34)
         Element/Relation  > Komplexität
                                                                        > Semantik
         System/Umwelt    > Differenzierung

    Die Differenzierung wird gegenüber der Komplexität ausführlicher dargestellt: Teilsysteme sind beispielsweise Funktionssysteme mit je spezifischer Funktion (für die Gesellschaft), Leistung (für andere Funktionssysteme) und Reflexion (für sich selbst) (29 ff.). Um die funktionale Differenzierung gegenüber der Ständeordnung zu erläutern wird beispielsweise das Prinzip der Inklusion und Gleichheit als Wertpostulate dargestellt (33 f.). Gleichheit wird an Individualität festgemacht. 

    Kapitel IV: Sinndimensionen
    Es geht um Sinndimensionen (sachlich, zeitlich, sozial) und die darin vorkommende Variationen und Selektionen der Evolution:
    1. Sachlich bedeutet eine Spezialisierung, eine "Steigerung des Auflöse- und Rekombinationsvermögens" (37, kursiv i. Ori.). 
    2. In der Zeitdimension findet Beschleunigung statt (38).
    3. In der Sozialdimension geht es um doppelte Kontingenz und ihre Kontrolle (38).

    D.h. die evoluierende, variierende Komplexität schafft sich Korrelate in den drei Sinndimensionen. Der Selektiondruck und die sich dadurch ergebenen Formen in den Sinndimensionen sind jeweils voneinander unabhängig.

    Luhmanns These ist, dass die Semantik der Differenzierung folgt (39).

    Die Limitationalität von Semantiken (begrenzte Denkmöglichkeiten) werden auf Basis von Selbstreferenz in den Funktionssystemen ermittelt (40).

    Kapitel V: Evolution und Differenzierung
    Die Evolution (Strukturänderung) erklärt Unvorhergesehenes. Die Sinnhaftigkeit des Erleben und Handelns sind die Mutationen der sozio-kulturellen Evolution (42).

    Zu klärende Fragen wären
    1. wie die gesellschaftliche Evolution die interne Evolution der Teilsysteme ermöglicht (42); 
    2. oder ob Ideenevolution eigenständig ist (45)?
    Evolutionstheorie kann mit folgenden fünf Thesen hin zur Realität verdichtet (reduziert) werden 43 f.f.):
    1. Stabilisierung durch Differenzierung. 
    2. Einfluss durch die primäre Differenzierungsform. 
    3. Interne Evolution hat eine geringere Tragweite. 
    4. Ideenevolution (Semantik) ist zu unterscheiden von der Evolution der Teilsysteme.
    5. Die interne Evolution (der Teilsysteme) ist abhängig von der primären Differenzierung. D.h. auch eine Ideenevolution ist an die Semantik der primären (hier funktionalen) Differenzierung gebunden.
    Kapitel VI: Bedingungen der Möglichkeiten von Ideenevolution.
    Wie wird also Ideenevolution beeinflusst? Und wie lässt sich das untersuchen? Zu letzterem schlägt Luhmann folgendes vor:

    1. Selektion kann durch die Begriffe Plausibilität (leuchtet ein) und Evidenz (schließt Alternativen aus) untersucht werden (49). Beide Begriffe unterliegen auch der Variation. TEilsysteme unterliegen gesellschaftlicher und eigener Plausibilität/Evidenz (siehe oben These fünf).
    2. Stabilisierung kann durch Systematisierung und Dogmatisierung untersucht werden (50), beispielsweise Institutionalisierung. Hierbei hat die Ideenevolution eine gewisse Autonomie als Reflexionsform (Selbststabilität) (51). Die Krise des Dogmatismus (in der stratifikatorischen Differenzierung) kann als Stabilisierungsfunktion der funktionalen Differenzierung gesehen werden (51).
    3. Bei Variation sind es kognitive Inkonsistenzen und Probleme als Teil der Verschriftlichung (47). D.h. Variation braucht den Problembezug und Vermittlungsoperationen wie Änderung von Begriffsbedeutungen.
    Der dabei zu untersuchende "empirische[...] corpus" (45) der Ideenevolution besteht aus besonderen Sinnzusammenhängen von gepflegter Semantik (46). Das wird thematisiert, wenn "Evolution in der Reflexion über sich selbst kommt, [...] als das, was sich ändert und damit als das, was in der Änderung Kontinuität garantiert" (46, Hervorh. i. Ori.).

    Bedingung der Evolutionsfähigkeit sind eher intern (endogen).

    Die Zeitdifferenz zwischen semantischen Innovationen kann groß sein.

    Funktionssysteme binden Selektion.

    Wenn Materialien in der Ideenevolution beispielsweisein die Wissenschaftsevolution überführt werden, lassen sich folgende Aspekte unterscheiden (52 f.):
    1. Erkenntnisfunktion 
    2. Neutralität 
      1. seitens des Subjekt sind es psychische und soziale Kontexte;
      2. seitens des Objekts ist es das Außerkraftsetzen der phänomenalen Wahrheit (Konstruktivisimus).
    3. Die interpretierte Welt ist für die Wissenschaft Umwelt, sie kann nicht die gesamte Tradition szientifizieren. Das muss als Relation interner und externer Bedingungen gelöst werden.
    Fazit: Diese Reduktion der Wissenschaft ermöglicht eine Steigung des Wissens  (53), d.h. eine Komplexitätszunahme durch Komplexitätsreduktion (L.E.).

    Kapitel VII: Probleme reflektierten Wissens statt gepflegter Semantik
    Gepflegte Semantik wird zu (wissenschaftlichem) reflektiertem Wissen in der funktionalen Differenzierung. Die Wissenschaft löst sich ab vom Mitvollzug der Kommunikation (54). Ernst gemeinte Semantik verlagert sich in die Funktionssysteme (55), zwei Abstraktionen sind zu unterscheiden:

    1. Der Wertbegriff wird dabei eigenständig. 
    2. Relation Wissen und Gegenstand wird zum Problem (Apriorisierung versus Ideologie):
      1. Apriorisierung reduziert Komplexität auf die Identifizierung der Erkenntnisrelation (auf den Punkte, von dem aus Wissen als Wissen begründbar ist)
      2. Ideologie erweitert die Komplexität durch eine zweite Realitätsrelation.
    Semantik braucht die Angabe einer Systemreferenz.

    Kapitel VIII: Forschungen in der Wissenssoziologie und ihr Verhältnis zur Wahrheit
    Statt Wahrheit geht es eher um das Vermögen Kontingenzen zu thematisieren (60). Es stellt sich die Frage wie die Mechanismus der Evolution zusammenhängen? Es geht beispielsweise dann um Selektion und Variation von aneinander anschließenden Ordnungen, die selektiv behandelt werden können und teils abhängig, teils unabhängig voneinander variieren (62). Hierbei sind diese Forschung über den Zusammenhang von Semantik und Sozialstruktur selbst wieder Ausgangspunkt für Evolution (62). D.h. der Gegenstand der Soziologie muss sinnhaft-selbstreferentiell begriffen werden.

    Kapitel XI: Wissenssoziologie und Latenz
    Da jede Selektion hinreichende Formbestimmung voraussetzt, gilt das auch für Latenz. (Deswegen ist die alte Frage ob latentes Wissen soziales Wissen werden kann obsolet (63)). "Von Latenz sollte man aber nicht im Hinblick auf das ganz Unbestimmte sprechen, denn auch latente Möglichkeiten sind bestimmte oder situativ bestimmbare Möglichkeiten, die aber trotzdem nicht aktualisiert werden können" (65). Latenz kann nicht aktiviert werden (66). Erst durch Systembildungen werden komplexe Bereiche ausgegrent wie beispielsweise Sinngrenzen, wobei drei Überlegungen beim Problem sinnerzwungener Selektion zu unterscheiden sind
      1. Es gibt weiterhin inopportune Möglichkeiten, bei denen die Gegenmöglichkeiten denkbar bleiben.
      2. bestimmte Strukturwahl bietet Sinnkombinationen verstärkt an (und schließt andere aus) - beispielsweise über Moral
      3. Latente Strukturen sind nicht einfach fehlendes Bewusstsein (67), sondern bleiben sinnhaft verfügbar. Sie regeln, was man in welchen Situationen verschweigen muss

    Latenz braucht Systemschutz.

    In der Soziologie wird Latenz einsehbar. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Korrelation Sozialstruktur/Semantik sich an unterschiedlichen System/Umwelt-Differenzen bricht.

    Wissensoziologie steigert das Bewusstsein der Kontingenz und Nichtbeliebigkeit von Kombinationen.

    Statt selbstreferentieller Theoriepraxis wäre eine evolutionstheoretischer Ansatz sinnvoll. Der Wiedereintritt der wahren Darstellung der Realität durch in den durch sie bezeichneten Sachverhalt stellt die Chance zur Wiederöffnung der Evolution dar (71).

    Fußnoten
    (1) Eine ähnliche These ist bei Habermas zu finden. (Eine genaue Referenz konnte in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht gefunden werden).
    (2) Siehe ähnliche Kritik, jedoch breiter ausgearbeitet, in Luhmann (1981).
    (3) Zur Komplexität siehe Exzerpt Komplexität.

    Literatur
    Luhmann, Niklas (1993a): Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In: Niklas Luhmann (Hg.): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 4 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp (1), S. 9–71.

    Luhmann, Niklas (1993b): Vorwort. In: Niklas Luhmann (Hg.): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 4 Bände. Frankfurt am Main: Suhrkamp (1), S. 7–8.

    Luhmann, Niklas (1981): Geschichte als Prozeß und die Theorie sozio-kultureller Evolution. In: Niklas Luhmann (Hg.): Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation. Opladen: Westdt. Verl., S. 178–197.

    Fragen
    i) Fragen zu Luhmanns These: dass es "[z]u einer konsolidierten Grundsemantik [...] typisch nach der Entwicklung einer Differenzierungsform" kommt (S. 39, kursiv i. Ori.): Wieso folgt die Semantik der Sozialstruktur? Wäre es nicht genauso andersrum denkbar? Beispielsweise würde erst über Ausdifferenzierung von Rollen geredet: "man müsste mal dies oder jenes tun" - also kommuniziert. Aber erst später wird dies als Handlung durchgeführt - d.h. nachdem es sich als plausibel und evident (vgl. S. 49) herausgestellt hat. Zugegebenermaßen schließt Luhmann das nicht aus, da er von "konsolidiert" und abschwächend von "typisch" spricht. Aber eine Begründung des "nach" gibt er scheinbar nicht.
    Jedoch schreibt er auch, dass sie sich "wechselseitig beeinfluss" (34).

    ii) Frage zum Re-Entry der Wissensoziologie (70): Wenn für Forschungen zu einem re-entry der Wissensoziologie (mit ihrer Untersuchung von Sinn und der Korrelation Sozialstruktur/Semantik) "eine Theorie selbstreferetieller Theoriepraxis wohl aus[scheidet]" und "[w]eniger anspruchsvoll ein evolutionstheoreitscher Ansatz" sei (70), dann ist mit selbstreferentieller Theoriepraxis wohl kaum die selbstreferentielle Theoriearchitektur Luhmanns gemeint? Oder müsste er sich da selbst nicht kritisieren? Was versteht Luhmann also in diesem Fall unter "Theoriepraxis"?